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Transcript Lucia Bilefelds

Erzählerin: Lucia Bilefelds ist eine junge Lehrerin im Eutin des Jahres 1639. Als unverheiratete, aber gebildete Frau unterrichtet sie Mädchen, im – wie der örtliche Pastor notiert – „lesen, nehen, stricken, und wircken“. Abgesehen vom Tod ihrer Mutter im Frühjahr des Jahres verleitet nichts zu der Annahme, dass dies ein schweres Jahr werden würde. Und doch beginnen die Menschen in Eutin und der Umgebung an einem seltsamen Fieber zu sterben – ganze Familien sterben aus.

Lucia: Es ist merkwürdig im Haus. Nachmittags, wenn die Kinder nach dem Unterricht nach Hause gegangen sind. Dann sitze ich in der Küche und lausche. Kein junges Lachen. Aber auch keine Geräusche mehr in der Stube. Nichts. Es ist eine gespenstige Stille. Es kommt mir vor wie gestern als meine alte Mutter noch am Kamin gesessen hatte, mit den aneinanderklickenden Stricknadeln zwischen ihren weißen Fingern und einer heiteren Geschichte auf den Lippen. Herrgott… nun ist sie bereits ein halbes Jahr tot, und obwohl ich sie vermisse, war es ein absehbarer Umstand. Sie hatte ein tüchtiges und langes Leben geführt.

Vor wenigen Tagen hatte meine gute Freundin Trine Meetzen aus Meinsdorf vor meiner Tür gestanden. Diesen Besuch hatte ich so herbeigesehnt! Und heute… heute ist es mein starkes Bedürfnis, in der Zeit zurückzugehen, und sie wieder fortzuschicken. Doch das tat ich nicht, natürlich nicht. Und Trine… sie brachte, außer frischen Erntegaben, auch den Tod ins Haus.

Sie starb in dem Bett, in dem zuvor auch meine Mutter gestorben war; von schwarzgrauen Beulen überzogen, keuchend, schniefend, mit schweren Gliedern. Sie litt tagelang an Schüttelfrost und glühte doch wie Kohle, wenn ich ihre Haut berührte. Am Ende wusste sie nicht mehr, ob Nacht oder Tag war. Stunden hatte ich an ihrem Bett gewacht, hatte Medizin gegeben, Tinkturen aufgetragen und die Wäsche gewechselt – doch keinerlei Besserung stellte sich ein. Schließlich, an ihrem letzten Tag, wirkte sie seltsam zusammengeschrumpft, ja beinah entleert. Ihr Gesicht war kaum mehr unterscheidbar vom Bettlaken, von den teuflischen, schwarzen Beulen mal abgesehen. Kalter Schweiß saß ihr auf der Stirn. Als der Pastor kam, um ihr die letzte Salbung zu geben, konnte sie nicht mehr sprechen.

Und weiterhin scheint der Tod in Eutin keinen Halt zu machen. Ich habe gehört, dass vor allem im nahen Kasseedorf kaum noch eine Menschenseele am Leben ist. Im Sommer war die gesamten Familie Knake, die bis dahin das Wirtshaus geleitet hatten, elend an der Pest verstorben, nachdem ein Gast das Unheil aus der Ferne mitgebracht hatte. Und genauso wie sich die Krankheit im Wirtshaus gehalten hatte, hält sie sich nun in meinen vier Wänden.

Erzählerin: Die Toten werden aus den Häusern geholt und an dieser Stelle, auf der so genannten Pestwiese, abgelegt. Dort stapeln sich die Leichen, bevor sie oft nur notdürftig verscharrt werden. Lucia Bilefeld stirbt selbst nur knapp zwei Wochen nach ihrer Freundin Trine Meetzen, am 19. Oktober 1639. Als Lehrerin, sorgende Freundin und gute Tochter ist ihr Name noch heute im Bestattungsregister Eutins vermerkt. Die wenigen Zeilen, die ihr Leben und Sterben dokumentieren, stehen beispielhaft für die Stärke aller pflegenden Menschen – von denen ein Großteil Frauen sind – im Angesicht größter Not.

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